Interview mit dem Schriftsteller und Sänger Willy Vlautin

This entry was posted on 2.10.2009

Im Anfang war das Wort, noch vor der Musik. Willy Vlautin hat mit seiner Band Richmond Fontaine bereits etliche CDs veröffentlicht, aber es war der Roman „Motel Life“, der mein Interesse geweckt hat. Eine sehr gradlinige, depressive Geschichte ist das über die beiden Brüder Frank und Jerry Lee, zwei Spieler in Reno, deren Leben völlig aus dem Ruder läuft, als der eine einen Jungen überfährt.

Auch das zweite Buch, „Northline“, ist nicht weniger düster, aber immerhin schafft es die Hauptfigur Allison (die lange namenlos bleibt), sich von ihrem brutalen, rassistischen Freund zu trennen und ein neues Leben zu beginnen.

Beide Bücher sind etwas für Fans amerikanischer Autoren wie Denis Johnson und liegen auf Deutsch im Berlin Verlag vor. Nun begab es sich, dass Willy Vlautin in Deutschland weilte – seine Alternative-Country-Band Richmond Fontaine hat ein neues Album namens „We Used To Think The Freeway Sounded Like A River“ vorgelegt, das letztlich ähnliche Geschichten mit anderen Mitteln erzählt. Hier sind die Stories lediglich kürzer, gesungen und mit Musik unterlegt. Aber wer die Bücher mag, wird sich auch dem Charme dieser Platte nicht entziehen können. Und umgekehrt.

Im Gespräch erweist sich der Schriftsteller und Musiker dann als außerordentlich sympathischer Mensch: Wir haben schon eine halbe Stunde über alles Mögliche geredet – Musik, der Charme kleinerer Städte und Laufen zum Beispiel –, bevor wir überhaupt mit dem Interview beginnen. Und am Ende begleitet mich Vlautin noch ein Stück durch Kreuzberg.

Welche Unterschiede siehst du zwischen deinen Tätigkeiten als Schriftsteller und als Musiker? Was ist dir wichtiger?

Tief drinnen sind beide Tätigkeiten die gleichen. Ich geh sie allerdings anders an. Ich habe seit Jahren Romane geschrieben, ich habe sie nur nicht veröffentlicht. Ein Roman braucht so viel Zeit, das ist der große Unterschied. Ich hatte nie genug Zeit, gleichzeitig ein Buch zu schreiben und in einer Band zu spielen. Zumal wir sehr viel Arbeit in die Gruppe stecken – unsere Platten gehören uns, wir veröffentlichen sie auf kleinen Labels und machen deshalb viele Arbeiten selbst.
Meine Geschichten sind ansonsten die gleichen: Es geht um dieselben Charaktere, Bücher und Songs sind insofern verheiratet. Songs lassen sich einfacher schreiben, aber es ist schwerer, gute Songs zu schreiben. Eigentlich ist es in beiden Fällen schwierig, das gut zu machen.
Ich schreibe meinen besten Songs, wenn mein Leben auseinander fällt oder wenn ich verkatert, fertig bin. Wenn ich Romane schreibe, passe ich mehr auf mich auf. Dann gehe ich abends nicht aus, weil ich für eine längere Zeit sehr konzentriert sein muss. Ich liebe Romane, weil es für meinen Kopf besser ist und weil ich die Arbeitsethik dahinter mag. Die Arbeit einer Band besteht darin, auf Tour zu gehen. Die Arbeit eines Schriftstellers ist es, an einem Projekt zu arbeiten. Das ist der schönste Teil der Tätigkeit – aus einer schlechten Geschichte eine gute zu machen. Und das tue ich.

Hast du einen festen Tagesablauf, wenn du einen Roman schreibst? Stehst du um 8 Uhr auf und sitzst um 10 Uhr am Computer?

Meine Freundin ist Bäckerin, sie steht sehr früh auf. Ich stehe dann ebenfalls früh auf und schreibe, bis ich wahnsinnig werde. An einigen Tagen klappt das gut, an anderen spiele ich die ganze Zeit Gitarre. Ich habe ein Art Büro in der Innenstadt von Portland, in einem Arbeiterviertel. Da kann ich mich besser konzentrieren. Ich schreibe auch sehr viel auf der Pferderennbahn, die sich für mich wie eine große Bibliothek anfühlt, in der niemand sitzt. Ich kann dort den ganzen Tag abhängen, ohne dass mich jemand stört. Ich wechsle also sehr oft meine Arbeitsplätze. Aber grundsätzlich schreibe ich, bis es nicht mehr geht. Und ich bemerke sehr gut, wenn ich erschöpft bin. Ich weiß auch schon beim Aufstehen, ob ich den Dampf habe zu schreiben.

Ich kann mir vorstellen, dass sich zumindest Einzelteile von Songs schneller schreiben lassen. 200 Seiten lassen sich nicht mit einer einzigen Idee schreiben.

Man muss sie hinterher auch redigieren. Das ist eine meiner Stärken: Ich kann eine schlechte 40-Seiten-Geschichte schreiben und daran so lange arbeiten, dass am Ende vielleicht eine gute Story mit 25 Seiten herauskommt. Andererseits verteilt sich diese Arbeit auf zahlreiche Tage. Songs zu schreiben, ist eine eher blutige Angelegenheit – sie werden einfach rausgezogen. Zumindest gilt das für mich und für die Lieder der neuen Platte: Die sind sehr persönlich, sehr düster und sehr ernsthaft. Ich habe auch noch nicht herausgefunden, wie ich leichtere Lieder schreiben kann.

Wie wichtig ist denn der Einfluss der anderen Bandmitglieder? Vermisst du den beim Bücher schreiben?

Wenn ich Lieder zur Probe bringe, bestehen sie nur aus dem Grundgerüst, Strophen und Refrain. Die Band arrangiert die Songs und gibt ihnen die eigentliche Form. Ich kann einen Folksong schreiben, der zu einem Rocktitel wird. Und ein Rocksong bekommt eine seltsame, ruhige Atmosphäre. Sobald ich der Band einen Song gebe, ist er ihrer, nicht mehr meiner. Ich mag das, deswegen bin ich gerne in einer Band. Ich stehe nicht da und rufe: „Halt, das ist mein kleiner Folksong!“ Ich vereinnahme die Lieder nicht, sondern lasse sie atmen.
Bei Romanen ist das etwas anderes. Man verbringt so viel Zeit alleine mit ihnen, so dass es schwierig wird, irgendeinen Einfluss zu akzeptieren. Ich zeige niemandem etwas, bevor ein Entwurf fertig ist.
Wenn du mir in einer Kneipe die Hälfte eine Geschichte erzählst und mich fragst, ob sie gut ist, fehlt die Bewertungsgrundlage. Sie könnte langsam beginnen, aber ihr Ende ist so gelungen, dass sich das auszahlt. Vielleicht ist gerade die Person, die ich anfangs nicht leiden kann, diejenige, die ich am Ende besonders mag. Ich könnte dir empfehlen, diese Person rauszuwerfen. Du hörst auf mich und wirfst sie raus.
Man kann ein Buch nicht beurteilen, bevor es nicht fertig geschrieben ist. Deswegen zeige ich niemandem etwas, bevor ich mit einem Entwurf fertig bin. Und dann bekommen gleich zwei Leute den Text zu lesen. Wenn beide dann sagen, dass eine Figur misslungen ist, denke ich darüber nach. Dann höre ich auf die Meinungen anderer.
Wenn ich alle zehn Minuten jemanden anrufen und nach seiner Meinung fragen würde, würde ich wahnsinnig werden. Deswegen denke ich darüber gar nicht erst nach.

Du hast schon erwähnt, dass du dieselben Personen in deinen Büchern und deinen Liedern verwendest. Sind deine Songs also eine Art Kurzgeschichte? Und deine Romane die extra lange Fassung davon?

Meine Figuren leben vermutlich alle in derselben Nachbarschaft. Die Lieder geben mir oft Ideen für Geschichten. Einmal habe ich eine sehr lange Ballade über einen Jungen und sein Pferd geschrieben – ein sechsminütiger depressiver Folksong. Irgendwann wurde mir klar, dass die Geschichte als Buch besser funktionieren würde. Jetzt ist daraus mein dritter Roman „Lean on Pete“ geworden, der 2010 im Berlin Verlag erscheint.

Deine Helden sind meistens Verlierer. Oder sagen wir besser: von Schicksalsschlägen getroffene Menschen.

Ich sehe sie nicht als Verlierer. Frank und Jerry Lee aus „Motel Life“ lassen sich zu sehr treiben. Manchmal möchte man sie einfach schütteln. Aber gerade das finde ich an ihnen so interessant. Sie wissen, dass sie sich mehr anstrengen sollten, aber sie wissen nicht wie. Sie mussten sich niemals entscheiden, bis es zu diesem Unfall kam. Da müssen sie aufstehen, und dann sieht der Leser auch, wie sie wirklich sind. Aber viele Menschen lassen sich in ihrem Leben treiben. Nur sehr selten ist jemand gezwungen, aufzustehen und sich als anständiger Mensch zu erweisen. Jeder behauptet von sich, dass er das tun würde, aber das ist tatsächlich sehr schwierig. Allison Johnson aus „Northline“ mag ich sehr. Sie hat viele falsche Entscheidungen getroffen, aber ich glaube, dass sie sich sehr anstrengt, sich zu bessern.

Anfangs macht sie viele Fehler: Sie weiß, was ihr blüht, wenn sie trinkt, aber sie tut es trotzdem. Das ändert sich mit ihrem Umzug nach Reno.

Sie hatte einfach kein Selbstvertrauen. Als sie schwanger wird, kommt für sie der Moment, in dem sie aufstehen muss. Jetzt geht es nur noch um sie. Das ist auch der Punkt, an dem ich ihr eine Stimme gebe. Sie verlässt die Party in der Wüste und fährt mit einem Trucker per Anhalter zurück nach Las Vegas. Da erfährt man erstmals ihren Namen. Das ist auch das erste Mal, dass sie etwas richtig für sich entschieden hat. Davor war sie nur irgendeine Person, die keinen Namen verdient hatte. Klar: Sie stolpert auch später noch, eigentlich sogar das ganze Buch über. Aber sie bessert sich in ihren Entscheidungen.
Ich habe sie in sehr viele schlimme Situationen gebracht und hinterher viele gestrichen. Als sie in einer Szene mit diesen zwei Typen nach Hause geht, wollte ich das nicht. Ich habe das immer wieder herausgenommen, aber ich glaube, die Szene war unvermeidlich. Sie hätte sonst etwas anderes Selbstzerstörerisches getan. Ich glaube, dass sie sich immer dann so verhält, wenn sie hilflos ist. Das geht übrigens vielen Menschen so, wenn auch nicht so heftig wie bei ihr. Deswegen musste ich diese Szene wieder aufnehmen, auch wenn es mich umbrachte.

Was passiert denn wohl mit ihr nach dem Ende des Romans?

Ich habe einige weitere Geschichten über sie geschrieben. Ich glaube, dass es ihr gut gehen wird. Ich glaube, dass sie für lange Zeit mit Dan Mahoney zusammen sein wird. Sie ist klug und packt eine Chance auch am Schopfe. Das unterscheidet sie auch von Frank und Jerry Lee.

Meine Interpretation war, dass ihr Ex-Freund auftauchen und alles kaputt machen würde.

Meine Idee war, dass er sie immer noch auf eine gewisse Art „besitzt“. Ihre Vergangenheit besitzt sie noch, und er ist dafür ein Symbol. Ich glaube, dass er niemals nach Reno hochkommen wird, aber sie glaubt, dass er könnte. Aber in der Situation, als sie das befürchtet, geht sie zu Dan und küsst ihn. Sie ist so verängstigt, dass sie sich an ihn hält. Aber immerhin wählt sie den richtigen. Das ist Glück, aber andererseits weiß sie, wer sie gut behandelt, und hält sich an diese Personen. Ihr Ex ist hingegen jemand, der anderen nur Angst einjagen will.

Inwiefern planst du die Geschichte vorher, und wie viel passiert einfach, während du ein Buch schreibst?

Die brutalen Szenen will ich definitiv nicht schreiben, ebenso wenig die rassistischen Ideen einiger Figuren. Aber sie erinnerten mich sehr an die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich musste diese Szenen einfach schreiben, aber ich bin sehr verunsichert wegen ihnen und überarbeite sehr viel.

Aber es gibt keine bestimmten Episoden, die du vorbereitest und unbedingt aufnehmen willst?

Das machen viele Krimi-Autoren. Ich kenne lediglich den Kern einer Geschichte. Aber was ansonsten passiert, weiß ich nicht. Ich verliere mich in den Geschichten, aber ich habe eine Idee, wo ich hin will. Anschließend redigiere ich sehr viel. Bei „Northline“ merkt man es vielleicht nicht – aber ich habe das verdammte Ding fünf- bis sechsmal stark umgeschrieben. Ich habe bestimmt noch hundert weitere Seiten, auf denen sie ein viel leichteres Leben führt. Ich wollte einfach nicht, dass ihr noch mehr schlimme Dinge passieren. Im Prinzip ist sie eine Symbiose von mir, meiner Mutter und meiner Großmutter. Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Geschichte aus meinem Kopf zu bekommen. Ich schreibe viele Dinge, damit ich sie kontrollieren kann. Ich kann Angst und Alkoholismus verstehen, wenn ich sie in einer Geschichte unter Kontrolle bekomme.
In einer Version des Buchs habe ich sie bei dem Trucker und seiner Frau einziehen lassen. Und es ging ihr gut dort. Aber dann dachte ich darüber nach und kam zu dem Schluss, dass das zwar eine nette Unterbrechung war, aber sie sich nie bei ihm melden würde. Nicht in einer Million Jahre. Dafür hat sie einfach nicht das Selbstvertrauen. Also musste ich das erneut umschreiben.

Es klingt auch nicht logisch, dass sie ihn anrufen würde.

Nein, überhaupt nicht. Aber ich brauchte das für einen Moment, weil die Geschichte sehr persönlich und sehr düster ist. Für eine Weile war sie sogar zu düster, deswegen musste ich dass Mädchen aus ihrer Situation nehmen. Das macht aber am Schreiben Spaß – ich wusste nach der Hälfte, dass diese Version nicht funktionieren würde. Aber letztlich hat auch diese Variante dazu beigetragen, wie die Geschichte endet.

Stattdessen hast du Songs genommen und einen Soundtrack zum Buch eingespielt.

Der Roman hat so viel aus mir herausgesogen. Ich habe mit dem Schreiben aufgehört und wurde richtig depressiv. Deshalb fing ich an, diese kleinen, traurigen Instrumentalstücke zu spielen. Davon hab ich einige geschrieben. Irgendwann dachte ich an den sehr schönen Soundtrack von Ry Cooder für „Paris, Texas“. Ich hatte den Film 10, 15 Jahre lang nicht gesehen, aber ich denke immer noch an die Musik und daran, wie Harry Dean Stanton durch die Wüste gegangen ist. Das hat den Film für mich lebendig gehalten. Und ich dachte, ich sollte das gleiche machen. Vielleicht hört ja jemand die Songs, und wenn er sie sechs Monate später erneut anhört, erscheint Allison Johnson für eine Minute oder auch nur für 30 Sekunden in seinen Gedanken.
Das war ein großartiger Sieg für mich, dass der Soundtrack dem Buch beigelegt wurde. Ich habe ihnen die Songs gegeben und gebettelt, dass sie eine CD dazu packen.

In welchem Verlag klappte das denn am schnellsten?

In England, wo das Buch zuerst erschien, war es schwierig, aber mein Lektor ist ein großer Fan der Songs. Er musste nur einige Leute überzeugen. Mein amerikanischer Verlag hat keine Sekunde gezögert, der deutsche ebenfalls nicht.

Welches Buch soll denn verfilmt werden?

„Northline“ scheint einer Verfilmung am nächsten zu sein. Courtney Hunt – die Regisseurin, die einen Film namens „Frozen River“ gemacht hat – will ihn machen. Ich weiß nicht, ob der Film hier je gelaufen ist, aber sie war als Drehbuchautorin für den Oscar nominiert. Es geht um eine Frau im Norden des Bundesstaats New York, die wirklich schwere Zeiten durchmacht. Ein großartiger Film. Sie versucht gerade, das Geld zusammenzubekommen. Ich hoffe, das klappt. Ich habe keinen Zweifel, dass sie einen tollen Job machen wird.

Bist du an der Verfilmung beteiligt?

Nein, gar nicht. Guillermo Arriaga, der „Amores Perros“ oder „21 Grams“ geschrieben hat, besaß lange Zeit die Rechte für „Motel Life“. Er ließ mich ein Drehbuch schreiben. Aber ich habe, glaube ich, keine gute Arbeit abgeliefert. Er ist ein wirklich netter Mensch. Aber nachdem ich gesehen habe, wie schwer es selbst für ihn ist, ein Film zu verwirklichen, wusste ich, dass ich etwas aufgeben müsste, um Drehbücher zu schreiben. Ich kann nicht gleichzeitig in einer Band spielen, Romane und Drehbücher schreiben. Mir ist klar geworden, dass ich besser ein Film-Fan bleibe. Außer ich bin mal pleite und jemand ist so dumm und gibt mir Geld dafür. Aber ich müsste schon verdammt pleite sein. Grundsätzlich sind die Bücher und Richmond Fontaine meine größte Liebe.

Als Drehbuchautor müsstest du auch mit vielen Leuten reden, die ihre Ideen über die Geschichte und ihre Charaktere haben. Am Ende ist die Geschichte nicht mehr deine.

Auf jeden Fall. Außerdem wären meine Drehbücher eher einfach und düster. Ich glaube, die würden völlig auseinander genommen – vielleicht sogar zu Recht. Ich habe sechs Monate am Drehbuch für „Motel Life“ geschrieben. Die hätte ich besser für einen Roman verwendet. Viele Schriftsteller haben mit Drehbüchern angefangen, weil das der einzige Weg ist, wirklich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber ich bin als Autor nicht gut genug dafür. Dann suche ich mir lieber einen Job und bleibe bei den Romanen.

Wie wichtig ist Reno, deine ursprüngliche Heimat, für deine Geschichten?

Mein nächstes Buch spielt in Portland. Aber grundsätzlich macht es Spaß, über Reno zu schreiben. Jede meiner Geschichten könnte dort spielen, weil mich die Stadt so interessiert. Zumindest einige Aspekte: die Casinos und das Spielen finde ich interessant. Eine solche Stadt hängt von den Schwächen der Menschen ab. Leute mit Defekten zahlen den Preis. Ich rede nicht von Paaren, die mal eine Runde spielen, oder von Familienvätern. Ich rede von Menschen, die komplett aufgesaugt werden, von Alkoholikern, die nach Reno ziehen, weil man in der Stadt so einfach leben kann. Ich wurde also genau in der richtigen Stadt geboren für meine Persönlichkeit. Ich wusste mit 13 oder 14 Jahren, dass mich die Stadt anziehen würde, und genoss das damals.
Für unstete Menschen ist Reno ideal. Man kann für 150 Dollar die Woche ein Hotelzimmer mieten. Am Monatsende ist das viel Geld, aber pro Woche geht das, wenn man einen Mitbewohner hat. Es gibt schließlich keine weiteren Kosten. Deshalb leben viele Menschen so. Ich war früher genau so – bis ich darüber nachdachte, vor zwei Stunden oder so (lacht).

Also bist du nach Portland gezogen, weil es sicherer für dich war?

Ich war 26 und wollte in einer richtigen Band spielen. Ich hab schon in der High School Musik gemacht. Aber ich wollte mit Leuten spielen, die fanden, dass Musik keine Zeitverschwendung ist. Meine Familie, von meinem Bruder abgesehen, dachte, ich werfe mein Leben weg. Meine Mutter hat sich elf Jahre lang für mich geschämt. Deswegen wollte ich die Stadt verlassen. Portland ist einfach eine großartige Musikstadt, und hier glaubten die Leute nicht, ich sei ein Freak.

Ist sie nun glücklich?

Sie starb vor einem Jahr. Ich glaube, sie fand es okay, als ich davon leben konnte. Wäre ich schwul, wäre es ihr peinlich gewesen. Wäre ich schwul und reich und hätte sie auf Reisen mitgenommen, wäre es okay gewesen. Sie konnte also ihren Freundinnen irgendwann sagen, dass es mir gut geht. Ob ihr das Schreiben gefiel, weiß ich nicht. Ich glaube, sie hatte immer Angst davor, dass ich über sie schreiben könnte.

Und? Hast du mal über sie geschrieben? Du hast „Northline“ erwähnt.

Nicht wirklich. Sie hätte die Mutter in „Northline“ sein können, weil sie so hart arbeitete und ein guter Mensch war. „Boyfriend“ vom neuen Album könnte über sie sein. Das hätte ich nie geschrieben, wenn sie noch am Leben wäre – sie hätte mich gekreuzigt.

Das ist das Lied über den Jungen, der seine Mutter beim Sex erlebt?

Es geht um einen Typen, der sich in einer Bar mit einer Frau anfreundet. Sie trinken eine Weile lang, haben ein Date und irgendwann auch Sex. Dabei sieht er ihr Kind und ist völlig entsetzt. „Wenn ich gewusst hätte, dass du ein Kind hast, hätte ich nicht mit dir geschlafen.“ Am Ende erfährt man, dass seine Mutter eine ganze Reihe von Liebhabern gehabt hat. Jetzt hat er das Gefühl, dass er auch so einer dieser Liebhaber ist, was er nicht wollte. Das bricht ihm das Herz, denn das Mädchen hat ihn in einem Monat vergessen. Aber der Junge wird sich sein ganzes verdammtes Leben daran erinnern, dass irgendein Typ auf seiner Mutter lag.
Ich sage nicht, dass das falsch ist. Ich werfe das auch meiner Mutter nicht vor. Sie war jung, und ihr Ehemann hatte sie verlassen. Sie hat nur gearbeitet und war manchmal einsam. Ich beschuldige sie nicht. Aber trotzdem verdreht sich was in deinem Hirn, wenn du das siehst.

Das Interview ist in gekürzter Form am 4. September 2009 im Oranienburger Generalanzeiger erschienen und in voller Länge in der Trust Augabe 139

Willy Vlautin bei Amazon
Richmond Fontaine bei Amazon

Schreiben Sie einen Kommentar